Es war eine kalte Winternacht irgendwann Anfang des 21. Jahrhunderts, ich kam spät nach Hause, in meine damalige Zivildienst-Stelle, eine Jugendherberge in Nordhessen. Das alte Lungensanatorium lag dunkel zwischen den großen verschneiten Bäumen, nur drei große Fenster des Tagungsraumes flackerten bunt und leise wummerte eine Musik in die Stille der Nacht, wie ich sie noch nie gehört hatte.
Anstatt direkt in mein Bett zu gehen, wie es die nächste Frühschicht und die Vernunft von mir verlangt hätten, zog es mich dorthin – glücklicherweise. Denn dort traf ich meinen Herbergsvater, der auf einer großen Leinwand in dem Turnhallen-großen Raum ein Live-Konzert von einer Band spielte, die ich bis dato nicht kannte oder nie wahrgenommen hatte: Roxy Music.
„More than this“
Mein Herbergsvater, der sich offensichtlich genauso wenig wunderte, warum ich so spät aus dem Nichts auftauchte, wie ich mich, dass er noch wach ist, dozierte sofort wer dies sei und welche Bedeutung die Band für die Musikwelt habe und so weiter und so fort. Ich muss zugeben, das meiste davon habe ich später wieder nachgelesen, viel zu sehr zog mich diese Band in den Bann.
Die Synthesizer, das eigentlich sehr kitschige Saxophon, die Riffs der Gitarre und vor allem der Gesang von und die Person selbst, Bryan Ferry. Stundenlang schauten wir uns DVD nach DVD an – damals gab es noch kein Youtube – bis der Morgen graute und ich sehr sehr müde, aber sehr sehr glücklich die Frühschicht antrat.
Mit „Love is the Drug“ auf den Lippen schnitt ich Käse und Wurst für das Frühstücksbuffet, mit „Avalon“ füllte ich die Industriespülmaschine, „More than this“ schwang den Wischmop durch die Toilettenräume. Kein Song passender als „Out of the Blue“ für dieses Erlebnis. Auf die Frage meiner Zivi-Kollegen, was eigentlich los sei, antwortete ich mit „The Thrill of it All“.
Mehr Style als Grandmaster Flash
Seitdem bin ich Bryan Ferry-Fan, Roxy Music-verrückt, obwohl es nicht im Geringsten nahe lag. Als sich Roxy Music auflöste, wurde ich geboren. Die Achtziger habe ich in Windeln, im Kindergarten und auf Bolzplätzen verbracht. In den Neunzigern war das Jahrzehnt davor eine Lachnummer, außer Grandmaster Flash und Run DMC, denn das war eigentlich meine Musik: Rap, Hip Hop. Immerhin war ich Skateboarder.
Doch dieser Bryan Ferry öffnete mir einen anderen Blick auf dieses Jahrzehnt und auf die davor – die sonst völlig vom Hippie-Klischee überdeckt waren. Vor allem erst einmal, dass die Achtziger keine einzige Modesünde war, dass Thomas Gottschalk eben nur besonders schlecht gekleidet und Stil eben doch eher eine schlechte deutsche Entschuldigung für das Wort „Style“ war.
Bestgekleideter Popstar der Musik-Geschichte
Ferry konnte das: sich kleiden wie ein Dandy, ohne auch nur einmal peinlich zu wirken, nicht wie ein Moderator einer semi-lustigen Quizshow, sondern wie jemand der barfuß mit Martini in der Hand durch die seichte Brandung eines Sommerstrandes spaziert („Do the Strand“). Wer möchte nicht Musik hören, die das Gefühl dieses Bildes vermittelt. Wer möchte nicht bei „Angel Eyes“ die Hand der schönsten Frau der Welt halten? Und wenn einem das noch lange Zeit vergönnt war, wer möchte nicht wenigstens Musik haben, die einem davon träumen ließ?
Natürlich, die meisten Plattencover von Roxy Music sind ziemlich sexistisch und der gleichzeitig großwerdende Punk der britischen Inseln war mit Ferry kaum in Einklang zu bringen. Und ich als junger, leicht rebellierender Mann, konnte mit diesem Stil ebenfalls herzlich wenig in meiner Lebenswirklichkeit anfangen. Schnell wusste ich aber auch für mich, dass man gar nicht versuchen sollte diesen „Style“ nachzuahmen – es geht nicht, Bryan Ferry ist singulär. Bryan Ferry arbeitete eben in jungen Jahren als Kunstlehrer an einer Mädchenschule.
Nur Klassiker altern in Würde
Viele Freunde konnte ich nicht für Roxy Music begeistern, und ganz bestimmt nicht für die Solo-Alben des alternden Sängers. Ferry blieb meist meine persönliche liebgewonnene Sünde. Ein typischer Satz eines späteren, sehr musik-verliebten Mitbewohners war: „Ohne Brian Eno waren sie nicht mehr dieselben.“ Mag sein. Aber ich war es vor und nach der Entdeckung Ferrys auch nicht.
Bryan Ferry ist jetzt 70. Normalerweise ist das alt. Bryan Ferry ist ein guter Hinweis für mich, dass es durchaus möglich ist, noch weitere 40 Jahre auf mein Leben draufzulegen und dabei meinem eigenen „Style“ treu zu bleiben – und das muss nichts mit Mode zu tun haben. Danke dafür und alles Gute zum Geburtstag. Vielleicht sehen wir uns noch einmal live. Und immer daran denken: „Dance away the Heartache“.